DIE ERFINDUNG DER KUNST
In Saal Nr. 1 der Mittelalter-Galerie sehen Sie die ältesten Bilder der Sammlung – älter sogar als der Begriff „Kunst“. Wie ist das zu verstehen? Es ist sind Bilder darunter, die noch gar nicht als Kunstwerke gedacht, sondern als Kultobjekte fest im religiösen Leben der Menschen verankert waren. Diese Bilder von Christus und Maria, von männlichen und weiblichen Heiligen, waren deswegen aber nicht minder wichtig oder bedeutend – eher im Gegenteil: Sie vertraten die dargestellten Heiligen quasi als Person. Sie nahmen Gebete entgegen und erwiesen Gnade, etwa durch Heilung von Körper, Geist und Seele. Manche von ihnen wurden auch bei Prozessionen durch die Straßen getragen. Kurz: sie wurden zu religiösen Zwecken regelrecht benutzt. Eines der Bilder in diesem Raum enthält sogar eine Gebrauchsanweisung. Im Gegenzug für Beichte und Gebete verspricht dieses Ablassbild dem reuigen Sünder nach seinem Tod einen deutlich kürzeren Aufenthalt im Fegefeuer – und damit einen schnelleren Weg ins Paradies.
Manche der hier gezeigten italienischen Gemälde haben ihre Wurzeln in der Ikonenmalerei aus Byzanz (Konstantinopel), die gerade in Italien starken Einfluss hatte. Die in Italien schon früh entwickelte städtische Kultur beförderte den öffentlichen Umgang mit dem Bild. So war es möglich, dass schließlich sogar eine „Geißelung Christi“ den Aktendeckel städtischer Finanzbeamter schmückte! Mit der Verbreitung des christlichen Bildes in weltlichen Zusammenhängen kamen neue Werte ins Spiel. Die geistig-geistlichen Werte, die der Goldgrund verkörperte, wurden abgelöst durch Kunstwerte im modernen Sinn: Etwa besondere Fähigkeiten einzelner Künstler, Menschen und Räume lebensecht wiederzugeben. Aus dem Kultobjekt wurde ein Fenster auf die Welt – ein entscheidender Schritt zur Kunst im heutigen Sinne.