VISION UND WIRKLICHKEIT
In diesem Saal wird die enorme Spannung spürbar, in der die Menschen des Spätmittelalters, einer Epoche des Übergangs, lebten. Auf der einen Seite die alltäglich sie umgebende Realität: Die Lebensräume Stadt und Land drängen als Hintergrund in die Altarbilder (siehe Saal 7). Auf der anderen Seite der Ausblick auf das Leben nach dem Tod. Er war verbunden mit der Hoffnung auf ewiges Leben im Paradies, aber auch mit der Angst vor Bestrafung im Höllenfeuer.
Für die Darstellung dieser Gegensätze entwickeln die Maler bestimmte Ideen und Formen. Auf raffinierte Weise „porträtiert“ ein Kölner Maler Fluß- und Landseite seiner Heimatstadt auf Vorder- und Rückseite einer Tafel. Für ein visionäres Thema hingegen, die Erscheinung von Maria und Christus, verwendet derselbe Künstler mehrere große Rundformen. Sie sind in seiner Komposition rhythmisch, ja geradezu musikalisch gegeneinander gesetzt. Vergleicht man diese Verherrlichung Mariens mit den Nachbarbildern, so fällt auf, dass derlei große Rundformen überhaupt eine besonders beliebte Art waren, geheimnisvolle und mystische Ausblicke ins Ende der Zeiten darzustellen.
Anders als heute gingen die Menschen des Mittelalters nicht von einem immer fort fließenden Verlauf der Geschichte aus. Ihr Geschichtsverständnis war „teleologisch“, das heißt zielgerichtet. Ziel und zugleich Ende der Geschichte sind das Jüngste Gericht und die Apokalypse, die Auferstehung der Menschheit und die Herabkunft des Himmlischen Jerusalem (Paradies) auf Erden. Hier schließt sich der Kreis zwischen den sonst so gegensätzlichen Gemälden in diesem Saal: Das „Porträt“ der Stadt Köln zeigt die Stadt unter goldenem Himmel – als Ebenbild und Vorwegnahme des Himmlischen Jerusalem: eine Großstadt als Paradies…